Albrecht Fersch

wichtiges Bild

2022 - Die Arbeit besteht aus einer malerischen Ebene (125cm x  150cm) und einer literarischen Ebene. Es ist der unmögliche Versuch, ein gesamtes Weltbild auf die Fläche zu bannen. Die Bereiche auf dem Bild stellen gesellschaftlich relevante Orte, ontologische Ungewissheiten, die Aufgaben der Kunstschaffenden, politische Bühnen dar. Es ist der Versuch, menschliches Leben auf dieser Erde in einer Struktur abzubilden und zu beschreiben. Das Bild ist Malerei, geographisch-soziologische Kartierung, Prosa und Lyrik in einem.


Hier einige Nahaufnahmen des Bildes und Ausschnitte aus dem Text.

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[...] Seltsame, wabernde, unerläuterbare Klumpen, Moore, Gespinste, wie etwa der See der nächtlichen Ungewissheit oder der Unklarsumpf. Nur gering durchleuchtbare Orte, nicht genau festzumachen in ihrem Dasein. Und hinter oder unter all dem Gesumpfe liegt, unverwunderlich, noch weit mehr Grundlosigkeit, das Nichtsreservoir, aus dem die Weltbewohner ohne Unterlass schöpfen. Ein unaufhörlicher Daseinsquell aus Nichts.

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[...] In einem weiteren Sumpf brauen sich unheilvoll wirkende Dinge zusammen. Der aus Angst hervorgeborene Zwang schlängelt sich dort heraus. Aus diesiger, dunstiger Suppe brodeln naivdumme Individuen hervor. Individuen, die nach oben streben und sich in das Weltgeschehen einnetzen; ein jedes passt oder wird gepasst in die ihm zufallende Stelle, um in der Weltgemeinschaft am Motor mitzudrehen. Da wird dann vor sich hin gearbeitet, beeinflusst und gesteuert, häufig einfach nur verwaltet und verschubladet, meistens aber schlicht erduldet und hingenommen.

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[...] Motto der modernen Motor-Moral: Dem Morast ein Gerüst abtrotzen. Der Handlungsanweisung folgend entspringen städtebauliche Maßnahmen aus geeckten Gehirnkästen. Alles, was erstmal steht, steht außer Frage.
Hier ein Wohnhaus: ein an der zwanglos gestapelten Unterbringung von gesäugtem, geschultem, gerendertem, gereiftem Familienmaterial orientiertes Gebäude. Daneben ein Kommerzklotz, dahinter ein Meer aus Bürokomplexen, den Kathedralen der Verwaltungsinnung.
Grundbesitzende sitzen getrost, ihr Geld häuft sich schneller als es je abfließen könnte, ihr Grund ist gesichert durch Staat, Recht, Erbe, Gesetz, Ideologie, Politik, Kapital und Konvention. Dem Sumpf wird klobig getrotzt, der metaphysisch ungründlichen Wirklichkeit entgegengewirkt.
Das Grundbuch, die Reliquie der Immobiliengläubiger, sortiert das städtische Inventar. Der Name ist unfreiwillig doppeldeutig. Das Buch des Grundes teilt Bodenbesitz den jeweiligen Eigentümern zu und-oder es lässt Sinnsuchende Begründungen finden. Gibt es einen Grund? Warum gibt es keinen? Was sagt mir das Grundbuch dazu? Aus welchem Grund besitze ich Boden? Grundbesitz und Daseinsgrund finden unverhohlen zu systembestimmender Zusammenverknüpfung. Von innen heraus, aus der Mitte des Systembildes, wirken Grundbesitzende reich an Wirktum, Einfluss, Motoröl und Steuerungskapazität.
Grund Besitz Ende. Wo sind die Ausgebooteten? Wohnen sie in der Straße der Durchgeknallten? Hausen sie in der Allee der Chancenlosen? Wer fragt nach den Nomaden? Wer zählt die Obdachlosen? Wer sucht nach dem Ende der Heimat?

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[...] Welche Entscheidungen auch immer deinen Spaziergang durch sinnfizierten Unsinn leiten, im Hotel Vorbestimmung steht jeder und jedem ein reserviertes Zimmer zur Verfügung. Metaphysische Obdachlosigkeit bedeutet nicht automatisch Raumnot. Existenzen kommen von nirgends, doch Wege sind markiert, der biologische Aufenthalt steht unter Lebenswertbegutachtung.
Die Ausstattungen individueller Hotelzimmer variieren natürlich gewaltig. Von junggeselliger Gammelbude bis altvorderer Versammlungshalle, von Schrott bis Loft, von Alleinerzieherinnenvilla bis Luxuskabuff, von Erbpacht bis Mietpreishohn. Zwischen Bunker und Bungalow liegen Zivilschutzwelten. Auch den Ärmsten werden bittende Einreichungen gewährt.
Die Vorbestimmung wirft dich deinen Bedürfnissen zu Füßen. Dein persönlicher Algorithmus bringt dich ganz auf Linie mit deinen Ansichten von der Stange. Immer stimmig. Deine Informationslage erlaubt dir folgerichtig das Gefühl von Freiheit. Sperrangelweit geöffnet ist dein rechteckiger Fensterblick.

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[...] Menschenmatschige Erdlinge aus Scham und Schlamm geformt, folgen ihrer materiell eingravierten Vorbestimmung. Vom privatesten Wohnzimmerverlies bis zum offiziellsten Ministerienstammtisch toben die Schlammschlachten, wenn die Verirrten im Labyrinth des Urleibs der Muttergottheit sich erschießend, erbrechend, erblutend die Köpfe zerschlagen und die Herzen ausreißen.
Verschlungene Eingeweide-Irr-Wege verbinden die Sümpfe mit dem Weltbauch. Je mehr mit intellektuellen Mitteln der metaphysischen Clownerie zu Rande gekommen werden soll, desto mehr verirrt man sich. Ariadne-Fäden kreuzen sich, wurden richtungsanzeigenlos abgelegt, zerfasern zu gewolligen Filzteppichen. In mud we have to trust.

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[...] Die Visionäre, die taktil Sensibilisierten, die schmelzenden Haptiker, die Gustatoren, die Auditionäre, die kinästhetischen Seismologen, die Perforierten, die Olfaktionäre und Osmologen, die kreativ Verhaltensauffälligen und mental, vital, cerebral, empathikal, emotional, kolossal Sonderbefähigten:
Forschend haben sie den Kopf in Schriftgewirre gesteckt, demütig das Herz in Natur und Kultur getunkt. Studienjahre in Schachtelbriefen und Kapselbriefen verbracht. Aus der Rumpelkammer heraus geopoetische Analysen verfasst. Versalzene Aphorismen rückwärts vorgelesen. Wunschbilder doppelbelichtet und orakelnde Metabolismen demaskiert. Traumforschung, Vogelkunde, spiralende Gedanken. Nihilistische Ketten geknüpft. Von Staubgedichten über Schlitzbücher und Knochenbilder bis hin zu Suppenrestskulpturen. Strukturalisierter Singsang. Am Erdtelefon konferenziert, Seifenblasen halbiert, mit Regentropfen konzertiert.

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[...] Die Heimat der visionären Gemüter ist das Fragenmuseum. Von wichtigen Fragen werden nichtige Antworten getrennt. Die Erde dreht sich weiter. Die Fragenden ertragen den Schwindel, der das Gleichgewichtsorgan küsst - und nicht jenen Schwindel, der den Rednern in die eigene Tasche lügt. Wirklich eindeutig und eindeutig wirklich ist nur: Alle Lebenden finden ein Ende. Niemand, niemand kommt lebend hier raus.

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